Korrespondenzen - Die Begegnung von Kunst und Kirche in postmodernen Zeiten

Als Kaiser Karl der Große vor mehr als 1200 Jahren vor der Frage stand, nach welchen Gesichtspunkten Kunst in den Kirchen zu beurteilen sei, gab er ein Gutachten in Auftrag, das unter dem Titel "Libri Carolini" bekannt geworden ist und das bis heute nicht an Aktualität kaum verloren hat. Karl der Große mußte Stellung nehmen, weil die Christenheit am Ende des 8. Jahrhunderts über Bedeutung der Kunst für den christlichen Glauben tief zerstritten war. Da gab es auf der einen Seite die Bilderfreunde, die Bilder als Vermittler des göttlichen Heils ansahen oder in ihnen ideale Medien zur Darstellung des christlichen Glaubens erkannten. Da waren auf der anderen Seite die Bilderfeinde, die in jedem religiösen Kunstwerk ein verbotenes Kultbild erblickten und deshalb die Zerstörung aller religiösen Kunst forderten. Karl der Große hat sich keiner dieser Positionen angeschlossen. Die von seinem Hoftheologen Theodulf von Orleans verfaßte Stellungnahme kann vielmehr als aufgeklärte Auseinandersetzung mit Kunst im Kontext Kirche angesehen werden. Was die Reformation erst Jahrhunderte später theologisch ratifizierte und was sich gesellschaftlich erst gut tausend Jahre später durchgesetzt hat, nämlich die Freiheit und Souveränität der Kunst, wird in wichtigen Punkten bereits im Jahr 790 skizziert. Nach der Argumentation dieser Schrift zeigt sich die Qualität eines Kunstwerks nicht an den dargestellten Inhalten, vielmehr ist es ausschließlich nach Kunstverstand und Kunstfertigkeit zu beurteilen. Dementsprechend können Kunstwerke schön oder häßlich, ähnlich oder unähnlich, neu oder alt sein, keinesfalls aber heilig, sakral oder verehrungswürdig. Man wird dem Kunstwissenschaftler Bazon Brock zustimmen, wenn er zu den Libri Carolini schreibt: "Es ist sicherlich nicht unrichtig zu behaupten, daß diese Wesensbestimmung der Kunst als ars mundana einen entscheidenden Einfluß auf die Überwindung der sakralen Bindung der Kunst hatte."

Der Emanzipationsprozeß der Künste in den Jahrhunderten nach den "Libri Carolini" erfolgte im wesentlichen als Kritik historischer Bindungen und als Entwicklung und Entfaltung neuer Formen in der Kunst. Damit einher ging aber auch ein Entfremdungsprozeß zwischen Kunst und Kirche. Während die ästhetische Moderne das Religiöse tabuisierte, hat die religiöse Moderne das Ästhetische einfach ignoriert. Dieses Ritual gegenseitiger Nichtwahrnehmung dauert bis in die Gegenwart an. Der Blick auf die aktuelle Kunst zeigt nun, "daß die Autonomie der Kunst im Sinne ihrer Abgesondertheit vom 'Leben' aufgegeben wird zugunsten einer Autonomie im Sinne der Eigengesetzlichkeit mit Fühlern nach außen ... Der Charakter heutiger Avantgarde ist denn auch tendenziell prozeßhaft und situativ, ambulant und temporär, kontextbezogen und konnotativ, retrospektiv und zugleich prospektiv, also retrovisionär, und nicht zuletzt grenzüberschreitend ... Gefeiert werden kann der Abschied vom Konzept Autonomie und der strahlende Beginn des Experiments Autonomie". Was Paolo Bianchi so beschreibt, ist die Vollendung der Autonomie, die sich nicht mehr durch Abgrenzung, sondern in experimenteller Souveränität definiert. Interessant im Blick auf dieses "Experiment Autonomie" ist die Frage des kontextuellen Crossover: Wie verhält sich eine Erfahrung, wenn sie in den Kontext eines anderen Erfahrungsraumes gerät?

Zur Kunst von Madeleine Dietz

Die Arbeiten, die die 1953 in Mannheim geborene Künstlerin Madeleine Dietz in den letzten Jahren im Rahmen verschiedener Projekte in Kirchen situiert hat, können als Experimente in Sachen Autonomie erstanden werden. Es sind temporäre Versuchsaufbauten, spannungsvolle Materialstudien, welche zugleich Raumgefüge erkunden, Rauminszenierungen befragen und in Frage stellen, traditionelle Formen sowohl de-konstruieren wie in ihrem Gehalt ins Bewußtsein rücken. Einige der Reflexionsverfahren der Künstlerin bei dieser Bezugnahme auf die Tradition und die aktuellen Kontexte können unter den Stichworten Zitat, Negation und Irritation erörtert werden.

Zitat

Ein Verfahren der ironisch-kritischen Bezugnahme auf die Tradition ist das Zitat. Es stellt keine naive oder zufällige "Wiederholung" der Vergangenheit dar, sondern ist ein gezieltes Auswahlverfahren aus dem historischen Material, das sich selbst kenntlich macht und das Zitierte einer neuen Reflexion zugänglich macht.

Die Arbeit mit dem Titel "Triptychon" aus dem Jahr 1997 nimmt Bezug auf die vielleicht wichtigste religiöse Gestaltungsform: das Tafelbild. Unter einem Triptychon versteht man ein dreiteiliges Tafelbild, das aus einem Mittelstück und zwei beweglichen Flügeln besteht. Madeleine Dietz kombiniert Erde und Stahl in der für sie charakteristischen Weise zu einem Werk, das ein Triptychon "darstellt", ohne dabei dessen inhaltlichen Bezüge aufzuweisen. Vielmehr blickt der Betrachter auf glänzenden Stahl und getrocknete Erde, wobei von Werk zu Werk eine gewisse Varianz sowohl im Größenverhältnis von Seitenteilen zum Mittelstück als auch in der Art der verwendeten Erde besteht. Neben kleineren Formen des Triptychons gehören dazu aber auch Variationen, die formal die Konstruktion des Triptychons aufheben, wie etwa das ebenfalls 1997 entstandene Werk "Kein Triptychon", das zwei halbrunde Stahlseitenteile mit einem Erdkreis verbindet. Nur durch den negierenden Titel wird das historische Zitat kenntlich.

Auch die Arbeit "kein Schrein" läßt sich als Zitat lesen, das gerade im Kirchenraum einen besonderen Sinn erhält. Als Schrein bezeichnen wir einen Kasten, seit dem Mittelalter auch den Reliquienschrein, den Sarg und die Archivtruhe. Bei Madeleine Dietz wird die Skulptur des Schreins durch vier Kästen zusammengesetzt, wobei drei Kästen "verschlossen" sind, während im vierten die geschichtete Erde sichtbar ist. Man weiß nicht, ob die verschlossenen Kästen ebenfalls Erdstücke enthalten oder ob sie nicht leer sind.

Negation

Ein anderes Verfahren der ironisch-kritischen Bezugnahme auf die Tradition ist das der (scheinbaren) Negation, ein Verfahren, bei dem die formale Ausführung ebenso wie die Werkbeschreibung durch den Titel z.T. die spontan entstandenen Assoziationen dementiert, z.T. aber auch gerade erst durch die Negation derartige Assoziationen entstehen läßt.

Die erste Assoziation bei Madeleine Dietz´ Arbeit "kein Brunnen" lässt durchaus an eine Brunnenkonstruktion denken. Ein quadratischer Ziehbrunnen, der zumindest neugierig darauf macht, was sich in seinem Innern verbirgt. Nach und nach wird dieser Eindruck aber ad absurdum geführt, denn dieser 'Brunnen' ist so disfunktional, wie man ihn sich nur denken kann. Er enthält zwar Verweise auf historische und aktuelle Brunnenformen, aber er wäre als solcher nicht zu gebrauchen. Er (ent)hält kein Wasser, vielmehr würde alles Wasser, das man in ihn hineinschütten würde, versickern bzw. sich mit der Erde zu Lehm vermischen.

Auch das Kunstwerk "Kein Fenster zum Himmel" (1997) fordert den Betrachter heraus, nicht zuletzt, weil die Negation sich mehrfach deuten läßt. Natürlich ist dies "kein Fenster", denn das Kunstwerk kann zwar als Form eines Fensters verstanden werden, aber es verschließt jeden Blick. Und dann ist dieses Kunstwerk kein Fenster "zum Himmel", weder im Sinne des alltäglichen Sprachgebrauchs noch im religiösen Sinne. Bei Madeleine Dietz thematisiert die Formgebung zugleich die verschiedenen Sinnzuschreibungen, fordert sie heraus, dementiert sie, ohne sie doch wirklich ganz auszuschließen.

Irritation

Ein drittes Verfahren der ironisch-kritischen Bezugnahme auf die Tradition ist die Irritation, als unerwartete Störung im erwarteten Ablauf eines Geschehens. Sie verwirrt, beunruhigt und verunsichert. Es gehört zu den Charakteristika aller guten Kunst, daß sie automatische Verstehensvollzüge unterbrechen und neue Reflexionen nach Sinn einleiten. Irritation im hier gemeinten Sinne bezeichnet die Störung des Kontextes, die bewußte Rückwirkung auf den Bezugsrahmen.

1997 wurde von Madeleine Dietz in der Kirche Sankt Martin in Kassel im Rahmen der documenta-Begleitausstellung "Inszenierung und Vergegenwärtigung" durch einen Umbau des Altars das Raumgefüge der gesamten Kirche umgestaltet. Durch den Eingriff wurde der traditionelle Blick auf den Altar verwehrt und zugleich die Reflexion des Besuchers auf dessen Form und Funktion gelenkt. Dieser Altar-Umbau stellte für den mit der gewohnten Inszenierung vertrauten Kirchgänger eine besondere Irritation dar. War das nun ein Altar oder war es ein modernes autonomes und damit ein disfunktionales Kunstwerk, das sich in vollendeter Mimikry als Altar ausgab, keinesfalls aber einer ist? Oder war ein Altar immer schon ein Kunstwerk, das sich aus allen funktionalen Zusammenhängen des Alltags heraushob? Auch die Archaik, die der Kasseler Altar durch das Werk von Madeleine Dietz bekam, muß Irritationen auslösen. Nach all den Jahren theologischer Aufklärung plötzlich wieder ein Erdaltar, groß genug, darauf Blutopfer zu vollziehen?

In ihrer Ausstellung in der Paderborner Abdinghof-Kirche hat Madeleine Dietz den Weg aus dem Kirchenschiff über die Stufen hinauf zum Altar mit einer Schicht aus Erdstücken belegt und so diesen Weg ebenso akzentuiert wie auch einer Irritation unterworfen. Besonders in protestantischen Kirchen eröffnet sich dadurch eine eigene Spannung, zum einen angesichts des Priestertums aller Gläubigen, das keine privilegierten Wege kennt, zum anderen angesichts der reservierten Haltung allem Heiligen gegenüber. Auch der Stufenweg sorgt für Irritationen, denn er variiert traditionelle Elemente der Kirchenausstattung in einer Weise, die vom gewohnten funktionellen Kontext (Weg zum Altar) abweichen, ihn dennoch besonders hervorheben, ja mit besonderer Bedeutung anreichern: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf die stehst, ist heiliges Land! (Exodus 3,5)

(c) Andreas Mertin